Offener Brief zur strategischen Finanzplanung des Landes Berlin

Die Stiftung „Haus der Demokratie und  Menschenrechte“ und das Stadtteilbüro haben einen Offenen Brief an den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses gerichtet:

Das Land Berlin braucht zwingend einen Nachtragshaushalt! Mittelfristige Rücklagen bilden, statt unnötig jetzt Schulden tilgen!

Eine vorzeitige Sondertilgung der Berliner Landesschulden in Höhe von 900 Mio. € ist nicht gerechtfertigt. Das Budget-Recht und die demokratische Kontrolle des Abgeordnetenhauses sowie die Möglichkeit zur öffentlichen Beteiligung der kritischen Zivilgesellschaft dürfen nicht ausgehebelt werden!

Sehr geehrter Herr Verrycken.

Alle große politische Action besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Diesen Ausspruch hat Ferdinand Lassalle vor 152 Jahren im Kreuzberger »Mundischen Saal« der entstehenden Arbeiter*innenbewegung mit auf den Weg gegeben. Und dieser Leitsatz gilt auch für die kritische Stadtgesellschaft und für die notwendigen stadtpolitischen Kontroversen heute.

Als Sprecher des bürger*innenschaftlichen Zusammenschlusses des »Stadtteilbüros Friedrichshain« sowie als Vorstand der Stiftung »Haus der Demokratie und Menschenrechte« (HdDM) wurde ich gebeten, dieses »Offenen Brief zur mittelfristigen Finanzplanung des Landes Berlin« zu formulieren.

Anlass unserer Debatten waren sowohl die Lektüre des „Statusberichts zum Haushalt per 30.06.2018“ vom 28.08. 2018 (RN 0081G), die Diskussion zum „Eckpunktepapier zur Schuldenbremse“ vom 18.08 2018 (RN 1440) als auch die aktuellen Debatten zur Grundgesetzänderung im Rahmen der Ermöglichung von Verbundfinanzierungen von Landesaufgaben durch Bundesmittel (Stellungnahme des Bundesrates Anlage 2, Drucksache BT 19/3440 vom 18.07. 2018).

Strategische Finanzplanung ist kein Privileg der Experten!

Die Haushaltsüberschüsse sind eine erfreuliche Situation, die gestaltende Landes- und Kommunalpolitik ermöglichen kann. Dass die Überschüsse gemessen an den realen Bedarfen zu klein sind, um diese bewältigen zu können, das ist der andere Teil der Wahrheit. Und diese komfortable Situation des Senats ist endlich. Das zu verankernde Verschuldungsverbot verändert ab 2020 nachhaltig zukünftige Haushaltssituationen.

Das gleiche gilt für die Neuordnung des Länderfinanzausgleichs und Aufhebung des Kooperationsverbots des Bundes bei Länderaufgaben.

Es kann nicht sein, dass sich einige Länder immer weiter auf Kosten des Bundes sanieren“, so der Haushaltsexperte der CDU-Bundestagsfraktion im Spiegelartikel vom 22. September 2018. Dadurch dass die Regierung der Bundeshauptstadt neue Hilfen des Bundes dankend annimmt, anstatt das Geld wie vorgesehen auszugeben, häuft das Land Überschüsse an, mit denen es nun sogar Schulden zurückzahlen will. „Angesichts der maroden Schulen in Berlin ist das genau die falsche Strategie“, meint Eckerhardt Rehberg. Der Bund spendiert Milliarden, trotzdem verbessert sich für Schüler und Eltern nichts. „Das ist ein aktiver Beitrag zur Politikverdrossenheit!

Gibt es einen Zwang zur vorzeitigen Sonderschuldentilgung, dem das Land Berlin folgen muss?

Der Finanzsenator Dr. Matthias Kollats und der Staatssekretär Klaus Feiler argumentierten in den letzten Jahren, das das Land Berlin aus der vorherigen Verschuldungssituatuation vertraglich gebunden ist, im Rahmen der jährlichen Berichte zur Schuldensituation des Landes einen Vorrang der Schuldentilgung zu bedienen. Wer sich aber die Mühe macht, wird feststellen, dass es diesen argumentativ postulierten Zwang einer Vereinbarung nicht gibt.

Wird der Jahresbericht des Rechnungshofes von 2018 (Drucksache 18/1180 vom 21.06. 2018, S.42) als Quelle herangezogen, dann ließe sich feststellen, dass das Land Berlin sich in den letzten Jahren durch erfolgreiche Umschuldung in der für sie hilfreichen Niedrigzinsphase mit seinem Schuldenportfolio von 59 Mrd. € optimal festverzinslich mit 0,31 % zu einer durchschnittlichen Laufzeit von 7,86 Jahren aufgestellt hat. Jährlich werden ca. 7 Mrd. umgeschuldet, die 2019 auf ein Refinanz­­­ierungsvolumen von 5 Mrd. absinken werden. Nimmt man diese Sachverhalte als Bezugsbasis, ist das Argument des steigenden Zinsrisikos bis 2026 – anders, als der Rechnungshof das sieht – nicht haltbar für eine Begründung zur vorzeitigen Tilgung.

Alle zu begrüßenden investiven Planungen sind unter der Oberfläche der Ankündigung massiv unterfinanziert. Das ließe sich am Beispiel der „Schulbauoffensive“ vorrechnen. Wäre die Situation nicht so, dann würde es auch nicht die Ausweichstrategie geben, den Wohnungsbestand der HOWOGE als Sicherheit für eine Kreditaufnahme zur Finanzierung von Teilbereichen der Schulbauoffensive Zweck zu entfremden. Der Realwert von Bestandswohnungen als finanzielle Kreditsicherheit ist notwendig für den leistbaren Wohnungsneubau und die Realisierung von warmmietenneutraler, wie altersgerechter Modernisierung.

Es gibt bei den öffentlichen Ausgaben eine strukturelle Unterfinanzierung der Gehältern als konsumtive Ausgaben, aber eben auch eine Unterfinanzierung der investiven Landesaufgaben in der baulichen Infrastruktur. Für die „Extrahaushalte“ im Bildungsbereich, wie bei den Krankenhäusern und der Gesundheitsversorgung gelten die vergleichbaren Problemlagen. Die öffentlichen Beschäftigten haben durch Einkommensverluste einen der großen Konsolidierungsbeiträge des Schuldenabbaus leisten müssen. Der entstandene bauliche Investitionsstau entstand durch öffentliche Einsparungen um jeden Preis.

In der behaupteten Bedarfskostenermittlung von SenBild zum Programm der Schulbauoffensive gibt es nach unserer Schätzung eine Unterfinanzierung in einer Höhe von mindestens 2 Mrd. €. Das ist eher konservativ geschätzt, weil nicht klar ist, wie sich im Metropolenraum Berlin die Baukosten entwickeln werden.

Es ist kein Zufall oder verwaltungstechnisches Versagen, dass die zurückgestellten Mittel des Sondervermögens SIWANA nicht zeitnahe in die Umsetzung gebracht werden konnten. Das technische Konstruktionsprinzip des Sondervermögens erzeugt diese Situation. (Siehe Bericht des Rechnungshofes von 2017, Drucksache 18/0424 vom 21.06 2017, Abschnitt 6)

Der Anspruch, mehr demokratische Transparenz und Partizipation der Stadtgesellschaft zu wagen, sieht anders aus, als vom Hauptausausschuss eine im geschlossenen Raum ausgehandelte Liste der »guten Taten«, besser formuliert der »guten Absichten«, abstimmen zu lassen.

Ist die beabsichtigte Schuldentilgung der Senatsverwaltung Berlin alternativlos?

Aus unserer Sicht nicht, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Fraktionen des Abgeordnetenhauses (AGH) das „Strucksche Gesetz“: „Keine Vorlage das Parlament so verlassen wird, wie es hineinkommt“ zur Anwendung bringen.

  1. Über das Instrument des Nachtragshaushalts ist es möglich, heute verfügbare Haushaltsüberschusses durch eine »Konjunkturrücklage« nach Paragraph 62 Landeshaushaltsordnung (LHO) in dem gestaltbaren und vom AGH kontrollierbaren Kernhaushalt des Landes zu erhalten.
  2. Es gibt eine weitgehend gesicherte Einnahmesituation des Landes bis 2022. Unsicherheiten ergeben sich aktuell aus dem in Aufstellung befindlichen Haushalt des Bundes ff.. Danach verändern sich Rahmenbedingungen grundlegend (Geldpolitik der Europäischen Zentralban IZB, Anstieg des öffentlich/ rechtlichen Zinsniveau). Eine »Konjunkturrücklage« sollte einen zeitlichen Sperrvermerk bis 2022 erhalten.
  3. Die Fraktionen des Abgeordnetenhauses müssen ihr formales Budgetrecht als Grundlage der Gewaltenteilung verantwortungsvoll gegenüber der Stadtgesellschaft ausüben. Das Abgeordnetenhaus beschließt zwar den Haushalt, hat aber keinerlei wirklichen Einfluss auf die Verteilung des SIWANA-Sonder­vermögens in Höhe von 3 Mrd. €. Eine Rücklagenverwendung aus dem Kernhaushalt erfordert eine verpflichtende Zustimmung des Abgeordnetenhauses. Verteilungsentscheidungen nach 2022 sollten sowohl im Rahmen der parlamentarischen Debatte unter Einbeziehung der Stadtgesellschaft erfolgen.
  4. Wir begrüßen die parteipolitischen Vorstöße, zukünftig mehr Transparenz in der Beratung zur Mittelverteilung in den Extrahaushalten für öffentliche Aufgaben zu bringen. Nach unserem Verständnis gilt ein gleiches Transparenzgebot gegenüber wirtschaftlichen Unternehmen im Eigentum des Landes, wie zum Beispiel bei Investitionen der landeseigenen Wohnungsunternehmen als zu stärkende »bedarfsorientierte Ökonomie des Gemeinwesens«.
  5. Das Land Berlin sollte zwingend der Stellungnahme des Bundesrates folgen, dass zukünftig bei der zu begrüßenden Mischfinanzierung von Landesaufgaben durch den Bund nicht Grundsätze der föderativen Eigenverantwortung und der Gestaltungsfähigkeit gegenüber dem Bund aufgegeben werden. Natürlich sollten alle Parteien entsprechend auf die Bundestagsfraktionen einwirken, wenn dieser Sachverhalt im Rahmen der Grundgesetzänderung 2018 öffentlich debattiert werden wird.

Gibt es von Ihrer Seite Nachfragen zu den in diesem »offenen Brief« aufgeführten Sachverhalten und Quellenbezüge, stehen wir Ihnen gerne im Rahmen der Meinungsfindung Ihrer Fraktion für ein Gespräch zur Verfügung. Wir sind daran interessiert, mit den Aktivist*innen der kritischen Stadtgesellschaft in einen öffentlichen Diskurs zu treten. Und wir gehen von einem Interesse zur offenen und demokratischen Debatte von Ihrer Seite aus.

Mit freundlichen Grüßen,

181007_offener-brief-strategische-finanzplanung

(Sprecher des Stadtteilbüros Friedrichshain &

Vorstand der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte)

[Der Offene Brief als PDF-Dokument kann hier heruntergladen werden.]